Die neueste Masche: Pietät bitte!
Andreas Müller
Kürzlich kursierte in den einschlägigen sozialen Medien die Meldung über den Tod einer 41-jährigen Profi-Bodybuilderin. Offen gestanden: Ich kannte ihren Namen nicht und ich habe ihn mir auch nicht gemerkt. Die Liste der vorzeitig aus dem Leben geschiedenen Bodybuilding-Stars ist inzwischen so lang, dass ich längst den Überblick verloren habe.
Spüren Sie jetzt einen gewissen Unmut gegen mich in sich aufsteigen? Da ist ein junger Mensch gestorben, nach Beschreibung ihrer Angehörigen eine anmutige, empathische, kinderliebe junge Frau – und der Autor dieser Zeilen hat nichts Besseres zu tun, als hier eine emotionslose, nüchtern-sachliche Statistik ins Gespräch zu bringen und damit auch noch unterschwellig einen bösen Verdacht herzustellen. So ein widerwärtiger Typ, wie kann man nur!
Sehen Sie – und genau darum geht es! Als ich die Kommentare unter dieser Meldung las, fand ich dort einige vorsichtig-schüchterne Versuche, Kritik an der Einnahme muskelaufbauender Medikamente zu üben, weil sie Leben und Gesundheit gefährden. Sofort brach die Hölle los: Wie kann man nur? Wie gemein, wie niederträchtig, wie pietätlos? Was für ein bösartiger, emotional gestörter Mensch muss man sein, um im Angesicht des Todes und des Schmerzes der Angehörigen eine solche Debatte vom Zaun zu brechen?
Wenn man jetzt erschrocken verstummt, dann haben die Steroiddealer, oder, um im „Szenejargon“ zu bleiben, die „Stoffhändler“, mal wieder gewonnen. Bodybuilder meiner Generation (ich trainiere seit 1974) wissen das, aber jungen Leuten muss man es vielleicht doch sagen: Natürlich geht es nicht nur um „anabol-androgene Steroide“, sondern auch um Wachstumshormon (HGH), Insulin, Schilddrüsenhormone und Diuretika, um Medikamente also, die nur von Kranken unter ärztlicher Aufsicht eingesetzt werden sollten. Fehl- und Überdosierungen schädigen die Gesundheit und sind ab einem individuell unterschiedlichen Ausmaß tödlich. Das Vertrackte dabei: Es ist ähnlich wie bei Alkohol – manche können jahrzehntelang gewaltige Mengen kübeln, ohne erkennbaren Schaden zu nehmen, andere hingegen sterben schon beim spielerischen Komasaufen im Jugendalter an einer Alkoholvergiftung.
Während der bundesdeutsche Staat jedoch beim Alkohol und seinen Gefahren für Leib und Leben vergleichsweise sensibel mit Gesetzen und Strafverfolgung reagiert, scheint das Phänomen Doping – besonders im Freizeitsport – in der Fülle der Probleme eines aufgewühlten Zeitgeistes irgendwie unterzugehen. Das ist eine überaus profitable Lücke für alle, die intelligent genug sind, um sie zu entdecken, und skrupellos genug, um sie zu nutzen. Längst sind die Natural-Bodybuilding-Verbände zu mehr oder weniger zahnlosen Tigern verkommen, weil ihre Sanktionen für Dopingverstöße ähnlich wirkungslos sind wie ihre Dopingkontrollen. Außerdem werden Natural-Bodybuilding-Verbände immer mehr überflüssig, seitdem „Nicht-Natural-Verbände“ begonnen haben, Kategorien mit veränderten Bewertungskriterien einführen. Ich zum Beispiel (sorry, das muss man mir jetzt einfach mal glauben, sonst wird der Artikel zu lang) bin „life-time-natural“. Auf Sächsisch: Ich hab‘ noch nie was genommen, ich hab‘ noch nie gestofft, ich hab‘ mein Leben lang die Finger von dem „Sch….zeug“ (Originalzitat eines weltbekannten tschechischen Bodybuilders) gelassen. Aber ich habe auch 51 Jahre lang mehrmals pro Woche ernsthaft trainiert, wenn ich nicht gerade bewusstlos auf einer Intensivstation herumlag. Wenn einer wie ich es schafft, bei Weltmeisterschaften und Universum-Wahlen der NABBA/WFF ins Finale zu kommen, dann scheint das irgendwie möglich zu sein. Nicht etwa, weil ich Superman bin, sondern wohl in erster Linie deshalb, weil ich einfach mein Ding gemacht habe, ohne mich durch Gequatsche verunsichern zu lassen. „Wer hinhört, hat verloren!“, hieß es in einem Artikel meiner damaligen Lieblingszeitschrift „Weltbühne“ während der Wendezeit um 1990, als Moraldebatten inflationär ins Kraut schossen. Auf der Grundlage solcher Debatten kann man wunderbar eigene Interessen umsetzen. Und genau dieses Prinzip wird jetzt in die Dopingdebatten eingebracht, um die Doping-Kritiker mundtot zu machen. Die Kriminellen, die Doping-Mafiosi, haben die Moral als Waffe entdeckt und drehen nun den Spieß um: Es ist „pietätlos“, über das tödliche Risiko von Doping zu sprechen! Ich bin gespannt, wann die ersten Pro-Doping-Aktivisten diesen Artikel kritisieren, weil ich nicht ordnungsgemäß gegendert habe.
