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12 Trainingsmythen – wahr oder falsch?

Prof. Dr. Kuno Hottenrott

Die Trainingswissenschaft hat sich enorm weiterentwickelt. Neue Erkenntnisse verdrängen gewohnte Trainingsabläufe und Vorurteile. Häufig zu langsam, wie Trainingseinbrüche, Verletzungsanfälligkeiten und Formtiefs vermuten lassen. Viele Erkenntnisse sind auch nicht neu, sie müssen nur differenzierter oder in manchen Fällen komplexer angewandt werden. Es lohnt sich also immer, ein wenig kritisch auf eingefahrene Trainingsabläufe zu schauen, damit man nicht einem Mythos aufsitzt.

Mythos 1:

Unterschwellige Trainingsreize sind unwirksam.

Stimmt nicht. Auch wenn die vielzitierte Reizstufenregel besagt, dass 1. stark überschwellige Reize funktionsschädigend sein können, 2. überschwellige Reize leistungsaufbauend und funktionserhaltend wirken und 3. unterschwellige Reize wirkungslos bleiben, sollte diese Regel kritisch hinterfragt werden. Die Reizstufenregel geht zurück auf Wilhelm Roux, ein Mediziner und Anatom, der sich mit dieser Regel auf das Aktionspotenzials der Skelettmuskelzelle bezog. Eine Übertragung auf den Trainingsprozeß ist allerdings kritisch zu sehen. Trainingsmaßnahmen unter der aeroben und anaeroben Schwelle sind bedeutsam für die aktive Regeneration oder für die Vorbereitung von intensiven Intervalleinheiten. Der lockere Cool-down auf dem Fahrradergometer nach einer intensiven Krafteinheit oder das langsame Auslaufen nach einem Intervallprogramm tragen zum schnelleren Laktatabbau bei und werden mit geringer Intensität unterschwellig durchgeführt. Auch eine längere Wanderung für einen gut trainierten Sportler kann zum Ressourcenaufbau mentaler Energie oder zum Stressabbau beitragen, wenngleich die Intensität unterschwellig ist.

Fazit: Im Trainingszyklus regelmäßig unterschwellige Reize einbauen. Sie unterstützen damit die Verarbeitung intensiver Trainingseinheiten, beschleunigen den Regenerationsprozeß und beugen einer Überforderung oder gar einem Übertraining vor.

Mythos 2:

Dehnen nach dem Krafttraining ist gut

Soll die Muskulatur nach einer intensiven Krafteinheit an Geräten gedehnt werden, um den erhöhten Muskeltonus und Spannungszustand zu verringern? Subjektiv fühlt es sich gut, wenn die angespannte bzw. „aufgepumpte“ Muskulatur gedehnt wird. Aber ist dies sinnvoll? Studien zeigen, dass ein intensives Dehnen nach dem Krafttraining Mirkoverletzungen in der Muskulatur auslösen und damit einen Muskelkater provozieren kann. Auch ist das unmittelbare Dehnen der stark beanspruchten Muskulatur nicht gut für die adaptive Wirkung der Krafttrainingseinheit.

Fazit: Um Muskelverkürzungen durch Krafttraining zu vermeiden, sollten die trainierte Muskulatur an den freien Trainingstagen gedehnt werden bzw. erst dann, wenn sich der Muskeltonus wieder erniedrigt ist.

Mythos 3

Die Fettverbrennung beginnt erst nach 30 Minuten

Stimmt nicht. Die Angaben zum Fettstoffwechseltraining sind sehr unterschiedlich. Oft wird behauptet, dass die Fettverbrennung beim Ausdauertraining erst nach 30 Minuten einsetzt und bis dahin nur Glykogen verbraucht wird. Dies ist insofern ein Irrtum, wenn die Belastungsintensität nicht beachtet wird. Die Fettverbrennung ist bereits in Ruhe hoch und nimmt bei moderater Belastungsintensität von der ersten Minute an zu. Eigene Messungen der Konzentration freier Fettsäuren (nur in ungebundener Form werden die Fettsäuren verwertet) im Blut haben ergeben, dass diese bei gleicher Belastungsintensität nach 90 min um ein Vielfaches höher waren als zu Beginn bzw. nach 30 min (s. Grafik 1). Der Fettstoffwechsel wird allerdings stark vom Glukoseangebot beeinflusst. Werden zum Beispiel vor dem Training Kohlenhydrate mit einem hohen glykämischen Index aufgenommen, ist der Fettstoffwechsel zu Beginn der Belastung unterdrückt. Erst wenn der Blutzuckerspiegel abfällt, nimmt die Fettstoffverbrennung zu.

Grafik 1:

Fazit:
Bei geringer Intensität erhöht sich der Fettsäureabbau mit Beginn der Trainingseinheit. Glukose- und Fettsäurenabbau beeinflussen sich jedoch gegenseitig. Sind die Belastungen zu intensiv und es kommt zum Laktatanstieg über etwa 7 mmol/l, dann wird der Umsatz an freien Fettsäuren im Energiestoffwechsel völlig unterdrückt. Ein Ausdauertraining nach mehrstündigem Kohlenhydratverzicht verbessert die Fettverbrennung.

Mythos 4

Viel Training bringt viel

Stimmt nur bedingt. Der Grundzusammenhang zwischen der Höhe der Trainingsbelastung und der Zunahme der Leistungsfähigkeit ist unbestritten. Zur langfristigen Leistungszunahme kommt es aber nur dann, wenn der Trainingszyklus systematisch und regelmäßig mit Pausen durchsetzt und auf individuell verträglichem Beanspruchungsniveau erfolgt. Häufig wird aber dieser Zusammenhang in der Praxis missachtet. Zum Beispiel wird im Frühjahr regelmäßig versucht, die versäumten Trainingskilometer nachzuholen, um im Sommer noch rechtzeitig fit zu sein. Der wöchentliche Trainingsumfang steigt vor allem in den Frühjahrscamps (z.B. Rad fahren auf Mallorca) um ein Vielfaches der gewohnten Belastung an. Ohne Pause werden mehrere Wochen am Limit der Leistungsfähigkeit trainiert. Der Trainingserfolg stellt sich allerdings meist nicht ein, dafür aber eine Erkrankung in den ersten Tagen der Rückkehr am Heimatort. Der Körper wurde überfordert, das Immunsystem ist in seiner Funktionalität über das Normalmaß gestresst und destabilisiert. Damit bleiben die gewünschten Trainingsanpassungen aus.

Fazit:
Zur langfristigen Leistungszunahme kommt es vor allem dann, wenn das Training systematisch und regelmäßig mit Erholungsphasen durchsetzt und auf das individuelle Leistungsniveau angepasst ist. Im Ausdauersport hat sich den Trainingserfolg eine Zyklisierung von 2:1 (2 Tage Belastung und ein Tag Entlastung) für Jüngere und Fitnesssportler bzw. 3:1 für Leistungssportler bewährt. Im Kraftsport sind 48 Stunden Pause nach einer hochintensiven Einheit sinnvoll.

 

Mythos 5

Muskelkater ist ein Beweis für effektives Training

Stimmt nicht. Wird die Muskulatur im Training oder Wettkampf besonders stark oder auf eine ungewohnte Weise beansprucht, dann kommt es nach ein bis zwei Tagen zu Schmerzzuständen. Der Muskelkater entsteht durch kleinste Verletzungen der Muskelfasern auf molekularer Ebene. Diese harmlose und zeitlich begrenzte mechanische Schädigung ist Ausdruck einer muskulären Überforderung und nicht für den Beweis eines wirksamen und sinnvollen Trainings.

Fazit:
Beim normalen und gewohnten Training sollte kein Muskelschmerz entstehen. Der Slogan „No pain, no gain“ mag für den Wettkampf an der Leistungsgrenze gelten, nicht aber als Regel für ein effektives Training.

 

Mythos 6

Im Marathon: Wer einmal geht, der läuft nicht mehr

Stimmt nicht. Marathon – das große Ziel vieler Athletinnen und Athleten. Einmal den kompletten Marathon ohne Pause durchlaufen. Gehen beim Marathon – ein Zeichen von Schwäche, das Ergebnis falscher Renneinteilung, zu schnellem Anfangstempo oder einfach schlechter Trainingsvorbereitung? Zwischendurch mal Gehen – auf keinem Fall, denn wenn du einmal gehst, dann kommst du nicht mehr ins Laufen. Das dies ein Mythos ist, den gerade Marathoneinsteiger nicht beachten sollten, konnte ich in einer Feldstudie mit 40 Läuferinnen und Läufern aufzeigen. Die Hälfte der Gruppe musste alle 5 km eine Gehphase von einer Minute einlegen, die andere Hälfte sollte ohne Pause durchlaufen. Als Ergebnis kam heraus, dass beide Gruppen fast die gleiche Marathonzeit erzielten. Im Mittel war die Marathon-Debütgruppe mit Laufen und Gehen nur 4 min Minuten langsamer als die Marathongruppe mit reinem Laufen. Statistisch war dieser Unterschied nicht signifikant. Eine weitere Auswertung der Studie ergab, dass die Beanspruchung auf das Stütz- und Bewegungssystem geringer war, denn weniger Muskelschmerzen und Probleme traten während des Marathons mit Gehphasen auf. Auch war die Erholungszeit nach dem Marathon mit Gehphasen kürzer. Die anschließende Leistungsfähigkeit war schneller wiederhergestellt. Zusätzlich berichteten die Teilnehmer, dass es ihnen durch die Gehphasen leichter gefallen ist, die Gesamtstrecke mental zu bewältigen. Sich bewusst zu entscheiden kurz zu gehen, anstatt am Ende gehen zu müssen ist eine ganz andere Herangehensweise. So integriere ich in die allgemeine Vorbereitungsphase auf einen Marathon spezielle Trainingseinheiten mit zügigen Gehphasen in den Trainingsplan für Marathoneinsteiger ein.

 

Mythos 7:

Die maximale Herzfrequenz beträgt 220 – Lebensalter

Das stimmt nicht. Die Formel 220 – Lebensalter stellt nur eine grobe Orientierungsgröße für die maximale Herzfrequenz dar. Eigene Untersuchungen an 1600 Ausdauersportler:innen im Alter von 10 bis 70 Jahren, die mit einem speziellen Lauftest ihre maximale Herzfrequenz ermittelten, zeigen statistisch nur einen schwachen Zusammenhang zwischen dem Lebensalter und der HFmax. Die Abweichung zur Beziehung „220 – Lebensalter“ beträgt im untersuchten Altersbereich über ± 20 Schläge pro Minute. Bei den Tests erreichten viele 20-jährige, aber auch 60-jährige Testpersonen, eine maximale Herzfrequenz von 200 Schlägen pro Minute.

Fazit: Die Intensitätsfestlegung für das Ausdauertraining sollte nur unter Berücksichtigung der real ermittelten individuellen maximalen Herzfrequenz erfolgen.

Grafik 2: Erreichte maximale Herzfrequenz im Laufbandtest von 10-70jährigen

Mythos 8

Die optimale Trainingsherzfrequenz beträgt 180 – Lebensalter

Stimmt nicht. Ausdauertraining erfolgt in unterschiedlichen energetischen Belastungs- und Herzfrequenzbereichen (Grundlagenausdauertraining 1, Grundlagenausdauertraining 2, Wettkampspezifisches Ausdauertraining) und nicht bei einem festgelegten Herzfrequenzwert. Leistungsdiagnostische Befunde zeigen, dass bei 20-Jährigen ein Ausdauertraining mit einer Herzfrequenz von 160 Schlägen/min (180-20 J.) im aeroben, im aeroben-anaeroben Übergangsbereich oder sogar deutlich über der anaeroben Schwelle liegen kann. Die Formel „180-Lebensalter“ wird trotz dieser Erkenntnis in der Praxis immer noch empfohlen.

Fazit:
Sportmedizin und Trainingswissenschaft verfügen heute über eine Vielzahl von Testmöglichkeiten (z.B. Laktatstufentest), um die jeweiligen Herzfrequenzbereiche für das Ausdauertraining exakt festlegen zu können. Eine pauschale Vorgabe allein nach dem Lebensalter kann zur Überforderung aber auch zur Unterforderung führen und die Ausdauerleistung nicht effektiv entwickeln.

 

Mythos 9:

Ein Marathon kann mit über 90% der maximalen HF gelaufen werden

Stimmt. Je höher die Leistungsfähigkeit und je spezifischer der Trainingszustand ist, desto intensiver kann über eine lange Strecke gelaufen werden. Wenig und moderat Trainierte erreichen zwar bei maximaler Anstrengung eine hohe Herzfrequenz, können diese jedoch nur für kurze Zeit aufrechterhalten. Eine Vielzahl an Herzfrequenzprotokolle von sehr gut trainierten Läuferinnen und Läufer über unterschiedliche Streckenlängen belegen, dass sie Rennen über 5 und 10 km annährend mit der maximalen Herzfrequenz laufen können. Bei einem 32jährigen Läufer betrug die mittlere Herzfrequenz über 10 km 209 Schläge/min, exakt und fehlerfrei mit einem Brustgurt gemessen. Im Marathon wird Kipchoge zitiert, der er seine Marathons mit über 90% seiner maximalen Herzfrequenz absolviert.

Fazit: Eine hohe Durchschnittsherzfrequenz im Marathon oder kürzeren Laufstrecken ist nicht nur  Ausdruck einer hohen sportmotorischen Leistungsfähigkeit, sondern beweist Willensstärke und eine hohe mentale Leistungsfähigkeit. .

 

Mythos 10

Schwimmen ist schonend für die Gelenke, Laufen schadet den Gelenken

Stimmt nicht ganz. Es ist richtig, dass der Aufenthalt im Wasser zu einer Entlastung des Körpergewichts und der Sehnen, Bänder und Gelenke beiträgt. Die Gelenkbelastung beim zügigen Brust- oder Delphinschwimmen ist dennoch relativ hoch, der Grund übrigens dafür, dass das Grundlagenausdauertraining im Schwimmen stets in der Kraultechnik durchgeführt wird. Laufen schadet bei normaler physiologischer Bein- und Fußstellung (keine ausgeprägte X- oder O-Beinstellung, keine extreme Übersupination und -pronation) und stabiler Lauftechnik den Gelenken nicht.

Fazit:
Wenn das Laufen zum regulären Belastungsstandard gehört, können über viele Jahre deutlich über 5000 Kilometer/Jahr gelaufen werden. Im Gegenteil, die Impactbelastung in der vorderen Stützphase wirkt sich sogar günstig auf den Erhalt einer hohen Knochendichte aus und beugt einer Osteoporose vor.

 

Mythos 11

Die anaerobe Ausdauerfähigkeit ist im Kindesalter nicht trainierbar

Stimmt nicht. Die anaerobe Ausdauerfähigkeit lässt sich in jedem Alter entwickeln, auch bei Kindern, dies belegen u.a. die Untersuchungsergebnisse von Bornmann et al. (1991). Bei leistungssportlich trainierenden Kindern wurden Laktatkonzentrationen von 10 bis 16 mmol/l gemessen. Eine hohe anaerobe Leistungsfähigkeit erfordert ein spezifisches und intensives (Intervall-)Training. Auch wenn die anaerobe Ausdauer im Kindesalter trainierbar ist, sollten hoch intensive Trainingseinheiten nach der Intervall- oder Wiederholungsmethode bei Kindern eher die Ausnahme darstellen. Dagegen sollte man im Kindesalter vor allem Schnelligkeit, Agilität und Koordination ausprägen. Das ist zu erreichen durch vielfältige Spiele, Kurzsprints und der Variation der Trainingsmittel.

Grafik 3:

Laktatwerte bei leistungssportlich trainierenden 9-jährigen Mädchen und Jungen

Mythos 12

Der Ballen- bzw. Vorfußlauf ist die ideale Lauftechnik für alle

Stimmt nicht. Es gibt keine ideale Lauftechnik für alle Die Lauftechnik unterscheidet sich bekanntlich zwischen Kurz-, Mittel- und Langstreckenläufer, zwischen Trainierten und Untrainierten, Mannschaftssportlern (Fußballern) und Leichtathleten sowie stark Übergewichtigen und Leichtgewichtigen. Ohne Zweifel ist das Vorfußlaufen für den Sprinter und Mittelstreckenläufer die Technik der Wahl. Für das langsame Joggen oder für das Langstrecken- und Marathontraining ist der Ballenlauf für die Mehrheit der Läuferinnen und Läufer nicht zu empfehlen. Warum? Die muskuläre Beanspruchung ist aufgrund der relativ langen Stützzeit einfach zu hoch. Muskelermüdungen, -krämpfe und -verhärtungen vor allem in der Wadenmuskulatur sind neben Überbeanspruchungen des Fußskeletts die Folge.

Fazit:
Die Lauftechnik ist immer variabel auszuprägen und sollte sich nach der realen Geschwindigkeit richten. Dadurch lassen sich verletzungsanfällige Stereotype verhindern und motorisch variable Situationen (Zwischen- und Endspurt, Bergan- und Bergablaufen) besser meistern.