Wir gehen auf eine kleine Atemreise
Atmung ist das vermeintlich einfachste und gleichermaßen Wichtigste überhaupt im und fürs Leben. Der Fakt, dass unser Atemmuster unsere Realität nicht nur permanent beeinflusst, sondern durch 20.000 (!) Wiederholungen am Tag regelrecht formt, war und ist immer aktuell. Aller Orten sieht man sich mit dem Thema konfrontiert und es gibt, wie bei allen Dingen, auch hier nicht die EINE Sichtweise. Zumindest für mich nicht.
Ich möchte etwas zu meiner eigenen „Atemreise“ sagen. Ich habe mich mein Leben lang bewegt und Sport gemacht. Nie hat mir jemand etwas über Atemtechnik erzählt. Und ich selbst kam auch nicht auf den Gedanken, meine Atemabläufe, -techniken oder den -vorgang an sich zu hinterfragen. Zugegeben, durch meine drahtige Figur stand meine Atmung seinerzeit nicht auf Platz 1 der meine Leistung limitierenden Faktoren. Ein gut gemeintes „Arme hoch und tief atmen“, sollte ich das Gefühl haben, zu wenig Luft zu bekommen, war wohl der einzige „Skill“, den ich vom Fußballspielen aus meiner Kindheit mitnahm. Heute weiß ich, dass sich diese Art „Atemdrill“ als nachteilig für den eigentlichen Effekt des „sich besser und effektiver mit Sauerstoff versorgen“ herausstellt. Dazu in einer späteren Ausgabe gerne mehr (…). Ich habe also weder beim Fußball, noch später auf dem Streetball-Court oder beim Bladen in irgendeiner Art bewussten Zugang zu meiner Atmung erhalten. Später dann, als ich begann, im Fitnessstudio zu trainieren, stellte sich ein erster Berührungspunkt ein. Nämlich, indem ich bewusst ein- bzw. -ausatmen sollte, je nachdem in welcher Bewegungsphase (konzentrisch, exzentrisch) ich mich gerade befand. Das kennst du sicherlich z. B. von Drückbewegungen: Mit der Einatmung lässt du die Last auf dich zukommen, mit der Ausatmung drückst du sie von dir weg. Schön und gut – warum das Sinn macht, blieb weiterhin im Dunkeln. Und irgendwie hinterfragt man dann auch nicht alles, habe ich zumindest nicht getan. Gerade wenn es um etwas derart Fundamentales ging wie Atmung.
Fast forward – ich hatte bereits vier Jahre Trainingserfahrung, als ich mir beim Athletiktraining eine für meine Verhältnisse schwere Verletzung zuzog. Ich konnte mich kaum bewegen und es brauchte mehrere Termine beim Physio sowie gleich zwei Vorstellungen beim Orthopäden meines Vertrauens innerhalb einer Woche, um mich wieder in eine Position zu bringen, die Heilung versprach. Es geschah gleichzeitig etwas Entscheidendes. In mir nährte sich – zunächst unterbewusst – die Überzeugung, dass eine derart schwere Verletzung nach mehr verlangte als dem damals oft Üblichen „etwas Pause, Schonen und Ruhe“. Um an der Wurzel der Thematik (es gab vorher Anzeichen für eine stärkere Belastung im Bereich der Verletzung) anzusetzen, brauchte ich etwas, dass die Basis meiner Bewegung grundlegend veränderte. Meinen Erfahrungen nach benötigte ich also einfach eine andere Art Bewegung, um mein System besser auf die Stressoren innerhalb meines Trainings vorzubereiten. „Einfach leichter, geschmeidiger und anders als das Krafttraining im Gym“, dachte ich…und begann mit Yoga.
Das Yogabuch meiner Eltern
Zu meinem großen Glück fand ich bei einem Regenerationsbesuch bei meinen Eltern in einem Yogabuch eine Anleitung, um sofort in die Praxis zu starten. Das kam mir entgegen, schließlich wollte ich AKTIV etwas verändern, nicht nur darüber lesen und mir die Theorie aneignen. Rückblickend allerdings bestand das eigentliche Glück darin, dass jede praktische Unterweisung grundsätzlich mit jeweils(!) 10 Minuten Atmen begann und endete. Das war zum einen gut, weil ich aufgrund meiner Verletzung ohnehin noch nicht in der Lage war, sämtliche Übungen auszuführen. Zum anderen auch anstrengend, weil ich einfach nur liegen sollte. Für mich war das eine Riesen-Umstellung. Ein junger Mann, Mitte 20, der nur so vor Lebensenergie sprüht und ständig die Bewegung sucht. Dieser Mensch soll nun liegen, einfach liegen und atmen – am besten noch mit geschlossenen Augen, nichts weiter. So fand ich mich „am Boden der Tatsachen“ wieder, allein auf meiner Yogamatte, allein in meiner Wohnung, nur mit der Stille als meine Partnerin und meinem Atem als Verbindung zwischen mir und der Außenwelt. Ich habe oft schmunzeln müssen. Über die Reflexion der Situation, über die Gedankengänge, die sich mir boten oder einfach nur aufgrund der Empfindungen, die ich nun überhaupt erst wahrnahm.
Die schlagendste Erfahrung war es, dass sich die Art und Weise meiner Atmung DIREKT auf meinen Körper auswirkte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit so gut es ging auf Ein- und Ausatmung, widerstand der Ablenkung meines Geistes ein ums andere Mal oder kehrte lächelnd mit positivem Mindest wieder zu meiner Aufgabe zurück. Eine Aufgabe, die sich mir als damals sehr stark auf optische Ergebnisse ausgelegten Menschen nicht direkt erschließen wollte. Wozu sollte ich 10 Minuten liegen oder sitzen und atmen, ohne dass sich dadurch ein optisch nachvollziehbarer GAIN festmachen ließ?
Die Veränderung fand statt
Sie begann im Inneren, manifestierte sich dort, bevor sie sich im gesamten Selbst meiner Person positiv nach Außen wahrnehmen ließ. Denn obwohl mir der Ansatz sehr weit weg von „meiner Welt“ vorkam, war da diese Intuition, die mir sagte, dass es genau solch einen radikalen Ansatz brauchte, um mit variableren Stressmustern innerhalb und außerhalb des Trainings klarzukommen. Ich blieb dabei. Dieser neue, erste bewusste Blick auf dieses essentielle Ding namens Atmung war tiefgreifend, gar weltverändernd für mich. Es folgten Jahre an unterschiedlichster Praxis. Orte, Settings, Emotionen, Leben – alles steckt zu jeder Zeit in uns und strahlt nach Außen – sich dem zu öffnen bedarf Mut, die Lust auf Neues und die Bereitschaft, Altes loszulassen. Das ist, was ist – immer wieder neu. Gerade gestern sah ich einen Social-Beitrag eines lieben Weggefährten. Auf dem Bild zu sehen: er im Schneidersitz in Strandnähe auf dem Boden sitzend, ihm gegenüber sein Sohn, ihn spiegelnd – beide mit geschlossenen Augen, den Blick nach innen gerichtet. Seine Botschaft darunter: „Wenn du jemandem den Umgang mit dem Gaspedal beibringst, solltest du ihm unbedingt auch zeigen, wie die Bremse funktioniert.“ Simpel und treffend. Ganz so fühlten sich und fühlen sich meine Übungserfahrungen im Bereich der Atmung an. Das Besinnen auf die Bewegungen, das Ein- und Ausströmen der Luft, das natürliche Gefühl für die richtige Menge an Luft, zu spüren, dass ich auf etwas derart Fundamentales aktiv Einfluss nehmen kann, einfach sein. „Welch‘ angenehmes Antidot zum sonstigen Training, der seinerzeit im Gym vorherrschenden Energie (…) und Tor zu so viel mehr“, dachte ich des Öfteren, als ich in 2009 morgens vor Sonnenaufgang auf meiner Dachterrasse sitzend den Tag begrüßte. Vielleicht erkennst du dich auch heute noch in diesem Bild wieder. Das alles war lediglich sitzen (oder liegen) und atmen.
Eine Yogamatte, ein Meditationskissen und ich – mehr nicht.
Bereits nach einigen Wochen bekam ich Feedbacks meines Umfelds. Diese fielen nicht durchweg positiv aus, weil das natürlich ein Loslassen meines bisherigen Ichs mit sich brachte. Innerhalb meines Berufs allerdings, der den Umgang mit Menschen zum Mittelpunkt hat, schien sich dieser Schritt als absoluter Gamechanger abzuzeichnen. Ich selbst bemerkte, dass ich offenbar in der Lage war, meinen Atem öfter bewusster wahrzunehmen. Ich spürte, wenn meine Haltung keinen optimalen Atemfluss zuließ und reagierte darauf entsprechend. Mein Geist war weniger zerstreut, ich konnte mich besser und länger auf bestimmte Aufgaben konzentrieren. Während meines Trainings sowie in den Regenerationsphasen zwischen den Einheiten war ich erheblich weniger erschöpft, es fiel mir leichter, mich für zusätzliche Arten der moderaten Aktivierung wie Gehen, Laufen, Radfahren etc. zu öffnen und ich atmete fast ausschließlich durch die Nase.
Nun steht natürlich eine Frage im Raum: Wo fange ich an?
Dazu möchte ich dir heute eine erste Übung mitgeben. Die Übung lässt sich immer und überall ausführen. Es bedarf nur etwas Achtsamkeit sowie einen gewissen Grad an Entspannung bzw. Offenheit. Wie bei allen Dingen ist es ratsam, zu Beginn mit etwas Ruhe vorzugehen, um die Ablenkung auf ein Minimum zu senken. Ich empfehle dir daher, dich von deinen technischen Gadgets abzukapseln, so dass wirklich nichts deine Aufmerksamkeit stört. Setz dich/lehn dich/stell dich/leg dich bequem hin. Dein Rumpf sollte sich in einer aufrechten Position befinden. Ja, das geht auch im Liegen, denn wo, wenn nicht hier, bist du in der Lage, deinen Brustkorb optimal oberhalb deines Beckens auszurichten?
Selbsttraining – Darum geht es
Um deinen Atemkörper möglichst mühelos und effektiv zur Entfaltung zu bringen, bietet es sich an, die dabei helfende Muskulatur in eine möglichst gute Ausgangsposition zu bringen. Für den Anfang, auch den Anfang dieser Serie an Artikeln zum Thema, genügt es, dass du deinen Atemkörper visualisierst, ihn dir also im Kopf vorstellst, und zwar als ein dreidimensionales und in sich dynamisches Gefäß. Du nimmst also bewusst Einfluss auf deine Atmung. Ein bemerkenswerter Vorgang, weil die Atmung die einzige Funktion des vegetativen Nervensystems (nicht willentlich beeinflussbare Körperfunktionen) ist, die beeinflusst werden kann!
- Schließe deinen Mund, halte deine Lippen entspannt und atme durch die Nase.
- Wenn es dein Sicherheitsempfinden zulässt, schließe deine Augen.
- Versuche, deinem Atem nachzuspüren. Nimm das Bild des dreidimensionalen, sich bewegenden Körpers in deinen Fokus.
- Spüre, wie dein Atem durch die Nase kommt und geht.
- Nimm wahr, wie sich dein Körper bewegt. Im besten Falle spürst du eine Symphonie aus Bauch- und Brustkorbatmung. Versuch zuzulassen, dass dein Atemkörper einatmend expandiert, sich also regelrecht in alle Richtungen aufbläst.
- Die Ausatmung darf möglichst lang und vollständig sein.
- Mit der Zeit stellt sich ein natürlicher Rhythmus ein. Versuche, diesem zu folgen.
- Spüre, wie deine Schultern mit jeder Ausatmung etwas absinken.
- Nimm deinen gesamten Körper mit all seinen Spannungen bewusst war und lass förmlich los, wo es sich gut anfühlt.
- Lass dich voll auf die Atemerfahrung ein und geh mit jedem neuen Atemzug noch etwas tiefer.
- Spüre, wie sich dein Körper, in welcher Position du dich auch befindest, sich immer besser auf diese Position einlässt. (Im Liegen spürst du z. B., wie deine Schulterblätter nach und nach etwas flächigeren Kontakt zum Boden/zu deiner Matte bekommen und dein gesamter Körper immer noch etwas mehr ankommt).
- Bleibe bei deiner Atmung und stell dir vor, dass um dich herum eine Art Schutzwall entsteht.
- Du bist ganz bei dir und befindest dich innerhalb deiner, von dir erschaffenen Zone.
- Spüre deinen Atemkörper und nimm wahr, dass er sich nach vorne, zu beiden Seiten sowie nach hinten (weniger im Liegen zu spüren…) ausdehnt und wieder in sich zusammensinkt.
- Mit der Zeit lernst du wirklich nur das zuzulassen, was für deine Atmung notwendig ist.
- Genieße diesen Moment und jeden einzelnen Atemzug.
- Beende deine Übung mit einem positiven Gedanken: Danke dir z. B: selbst für diesen Moment der Klarheit, Gesundheit und der Lebensenergie.
- Atme noch einige Male ganz bewusst durch die Nase ein und aus, während du spürst, dass du wieder zurückkommst.
- Zurück zu deinem Übungsort, zurück auf deine Yogamatte, zurück zu dir.
- Verbringe gerne noch einige Momente in sitzender Position, um dich wieder zu sammeln, bevor du weiter deinem Tag nachgehst.
Das Tolle daran ist, dass du nicht einmal aktiv dafür sorgen musst, dass sich Unterschiede in deiner Wahrnehmung einstellen. Sie werden ganz sicher kommen. Vielleicht dauert es einige Tage, Wochen oder gar Monate, bis sich dein neues Atemmuster einstellt. Es kommt. Hier gilt – wie immer – im Kopf behalten, dass das Leben eher einem Marathon gleicht, als einem Sprint und das der Faktor Zeit in Verbindung mit kontinuierlicher Praxis unschlagbar ist. Soll heißen: Übe einfach weiter, mach dein Ding und bleib dran!
Weitere Informationen zum Thema findest du auch in diesem Artikel „Functional Fundamentas: Atmung“.
Für praktische Einblicke ins Thema Atmung empfehle ich dir die Weiterbildung „Atemcoach„, „RELAX 2.0“ und „YOGA TRAINER“ an der Deutschen Berufsakademie Sport und Gesundheit.
Wie immer bleibt zu sagen, dass du sicher trainieren solltest. Keine Experimente auf Kosten deiner oder gar der Gesundheit deiner Klient*innen. Trainiere selbst erstmal sicher und reflektiere, was du trainierst, bevor du es anderen Menschen näherbringst.
Ein Artikel unseres Dozenten Hannes Rosen
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