Training im Flow
Dr. Sabine Nunius
Warum es manchmal läuft wie von selbst – und wie man diesen Zustand befördern kann.
Wer regelmäßig trainiert, kennt dieses Phänomen sicherlich: An manchen Tagen läuft es förmlich wie von selbst, die Zeit scheint geradezu dahinzufliegen und wir erbringen beinahe mühelos beachtliche Leistungen. An anderen Tagen dagegen quälen wir uns durch jede einzelne Minute und müssen uns für Zeiten und Resultate, die uns an guten Tagen leicht fallen, gehörig anstrengen. Die Ursachen für diese Schwankungen sind vielfältig. Ein zentraler Aspekt ist sicherlich unsere körperliche Verfassung. Fühlen wir uns energielos, haben schlecht geschlafen, sind durch eine Verletzung eingeschränkt oder brüten einen Infekt aus, wirkt sich das auf unsere physische Leistungsfähigkeit aus. Dieser Zusammenhang ist offensichtlich und quasi allen Sportlern bewusst. Meist gehen wir daher an solchen Tagen von vornherein mit anderen Erwartungen ins Training, passen unser Programm an oder schonen uns bewusst. Gleiches gilt für eher widrige äußere Umstände. Herrschen etwa sehr hohe oder sehr tiefe Temperaturen, ist unsere Leistungsfähigkeit eingeschränkt und wir adaptieren unsere Erwartungen sowie unser Trainingsprogramm entsprechend.
Weniger offensichtlich und somit schwerer erklärbar sind hingegen Phänomene, bei denen kein direkter Zusammenhang zwischen unserer Leistungsfähigkeit und unserer physischen Verfassung oder den äußeren Umständen zu bestehen scheint. Diese Erfahrung kennen die meisten, die regelmäßig trainieren, ebenfalls. Auf den ersten Blick scheint alles zu stimmen: Wir fühlen uns gut, befinden uns in einem erholten Zustand, sind angemessen vorbereitet und es herrschen günstige Bedingungen. Trotzdem gelingt es uns nicht, in unseren Fluss zu finden und das abzurufen, was unserem Trainingszustand entspräche und zu dem wir an anderen Tagen fähig sind. Diese Trainingseinheiten sind meist besonders frustrierend, weil sie uns unzufrieden mit unserer Leistung machen und wir in solchen Momenten oft beginnen, mit uns selbst zu hadern, da sich scheinbar kein rationaler Grund dafür finden lässt, dass sich die Beine anfühlen wie Blei, wir kraftlos sind oder keine Schnellkraft entwickeln können. Die einzige Erklärung, die dann bleibt, ist in der Regel: „Heute war einfach kein guter Tag“ oder „Irgendwie läuft es gerade nicht.“
Glücklicherweise kann der gleiche Effekt auch in umgekehrter Form eintreten, mitunter zu unserer eigenen Überraschung. So kommt es vor, dass wir uns zu Beginn einer Trainingseinheit energielos, gestresst und wenig leistungsfähig fühlen und daher geringe Erwartungen haben. Nachdem wir mit der Bewegung begonnen haben, scheint sich plötzlich jedoch ein mentaler Schalter umzulegen und wir befinden uns im „Flow“. Entgegen unseren anfänglichen Erwartungen läuft es dann sozusagen „wie geschmiert“ und wir übertreffen unsere Ziele für diesen Tag vielleicht sogar. Diese Erfahrung als solche dürfte vielen Sportlern vertraut sein. Geht es jedoch um die Ursachen und notwendigen Rahmenbedingungen für derartige Wechsel in einen anderen Bewusstseinszustand, wird es deutlich schwieriger, konkrete Faktoren zu benennen oder diese Zustände sogar gezielt herbeizuführen.
Flow – praktische Erfahrung und theoretisches Wissen
Diese Diskrepanz zwischen den vorhandenen Erfahrungswerten und den verfügbaren Erklärungen – sowie der Versuch, diese Lücken zu schließen – haben dazu geführt, dass sich Sportler wie Trainer und Sportwissenschaftler bereits seit längerem mit dem Thema Flow auseinandersetzen. Aus Sportler- wie Trainersicht sind diese Phänomene insofern spannend, als sie einen erheblichen Einfluss auf Training wie Wettkampf haben. Die Flow-Erfahrung an sich, also ein Gefühl der Leichtigkeit, des Ewig-Weiter-Machen-Könnens und des Aufgehens im Moment, ist aus mehreren Gründen höchst attraktiv. Der erste davon ist vergleichsweise banal: Empfinden wir eine sportliche Betätigung oder körperliche Belastung selbst bei hoher Intensität als angenehm und erstrebenswert, erhöht das den Spaß und die Motivation erheblich. Zudem fällt es leichter, eine intensive Leistung über lange Zeiträume aufrecht zu erhalten, wenn sie mit einer gewissen Mühelosigkeit vonstatten geht. Aus gutem Grund ist das sogenannte „runners‘ high“ gerade bei Langstreckenläufern so beliebt! Der Flow wird darüber hinaus mit einer Reihe weiterer positiver Qualitäten in Verbindung gebracht, darunter die generelle Steigerung des Wohlbefindens, eine Verbesserung des Selbstbilds sowie eine Erhöhung der Spitzenleistungsfähigkeit.[1]
Hinzu kommt eine starke emotionale Komponente. Flow-Zustände werden von den allermeisten Menschen als extrem angenehm empfunden. Wer einmal einen Flow-Zustand erlebt hat, strebt danach, diese Erfahrung zu wiederholen, schon allein aufgrund des guten Gefühls. Hinzu kommen, je nach individueller Zielsetzung, Aspekte wie Leistungssteigerung, längeres Durchhalten oder langfristige Motivation. Das Vorhaben ist somit klar definiert: Es geht darum, möglichst oft Flow-Erfahrungen zu machen. Die Umsetzung erweist sich jedoch als weitaus komplizierter. Denn während viele körperliche Zusammenhänge vergleichsweise gut erklärbar und somit beeinflussbar sind, scheinen die bei Training und Wettkampf ablaufenden mentalen Prozesse ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Ursache und Wirkung sind oft weniger leicht (oder scheinbar gar nicht) ersichtlich. Das erschwert es, konkrete Trainingspläne zu erstellen oder Maßnahmen zu definieren, die verlässlich zu einem Flow führen. Die einzige Alternative besteht daher meist darin, eigene Erfahrungen zu sammeln, zu experimentieren und so schließlich den individuell besten Weg zu finden.
Für die Erstellung einer solchen persönlichen Strategie sind, trotz der stark individuellen Komponente, gewisse theoretische Überlegungen dennoch von Nutzen. In Verbindung mit der eigenen Erfahrung helfen sie, zugrunde liegende Mechanismen zu erkennen und zu verstehen. So lassen sich individuelle Muster identifizieren und Zusammenhänge aufdecken. In einem zweiten Schritt können dann Strategien entwickelt werden, um förderliche Bedingungen zu kultivieren und damit Flow-Zustände zu begünstigen. Diese Vorgehensweise macht das wiederholte Erleben von Flows zumindest wahrscheinlicher. Der Idealfall, einen Flow wie auf Knopfdruck abzurufen, ist realistisch leider nicht möglich – zumindest ist es bislang noch niemandem gelungen, das hierfür notwendige „Rezept“ zu finden. Daher gilt es, sich vor allem auf die Rahmenbedingungen sowie auf beeinflussbare persönliche Faktoren zu konzentrieren und diese bestmöglich zu gestalten.
Flow als Mittel zur Leistungssteigerung?
Exakt diese Frage, also die Überlegung, wie die Rahmenbedingungen und anderweitige Voraussetzungen beschaffen sein müssen, um einen Flow zu befördern, treibt Sportler wie Trainer und Bewegungswissenschaftler schon seit langem um. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Spitzensports. Diejenigen Athletinnen und Athleten, die mit der internationalen Weltspitze konkurrieren können, sind heute in der Regel perfekt austrainiert und verfügen über ausgeklügelte Trainingspläne sowie hochwertigstes Material. Gilt es, sich von der Konkurrenz abzuheben und im Wettkampf über den entscheidenden Vorteil zu verfügen, müssen daher alle Faktoren genutzt werden, die die Leistungsfähigkeit potenziell steigern. Die mentale Komponente stellt in diesem Konglomerat an Faktoren eine zentrale Stellschraube dar. Aus gutem Grund ist Mentaltraining inzwischen ein fester Bestandteil der Trainingspläne von quasi allen Topathleten. In der Regel geht es insbesondere darum, Strategien zu entwickeln, um die Athleten widerstandsfähiger zu machen und sie in einen mentalen Zustand zu versetzen, der Höchstleistungen befördert. Dass sich Flows bei diesem Unterfangen anbieten, liegt auf der Hand. Spannenderweise gilt ähnliches für den Bereich der Musik. Auch hier ist das Anliegen, Spitzenmusiker zu befähigen, schwierigste Passagen scheinbar mühelos bzw. mit dem Eindruck größter Leichtigkeit vorzutragen. Offensichtlich sind die Rahmenbedingungen in beiden Feldern vielfach vergleichbar und übertragbar. Von daher findet sich eine ganze Reihe von Studien, die Musiker und Sportler vergleichen oder Flow-Zustände in beiden Bereichen untersuchen.
Die Konzentration auf die Steigerung der Leistungsfähigkeit bzw. auf die Performance spielt im Amateursport zwar ebenfalls eine Rolle, steht aber meist weniger stark im Vordergrund. Hier kommt zusätzlich vor allem der Aspekt der Motivation zum Tragen. Wer sich nach einem langen Arbeitstag noch zum Training aufraffen soll, wird dies weitaus leichter tun, wenn nicht nur die Aussicht auf das gute Gefühl nach dem Training lockt, sondern bereits das Training als solches Spaß macht. Erneut sind Flow-Zustände offensichtlich von Vorteil. Deshalb lohnt sich auch hier die Auseinandersetzungen mit den Bedingungen, die solche Zustände erleichtern. Da die zugrundeliegenden Mechanismen prinzipiell die gleichen sind, lassen sich die für den Bereich des Leistungssports gewonnen Erkenntnisse übertragen und so für unterschiedliche Kontexte und Zielsetzungen nutzen, ganz egal ob es darum geht, die Motivation zu stärken, die Leistung im Training und im Wettkampf zu fördern oder einen mentalen Ausgleich zu schaffen.
Flow – was ist das eigentlich?
Es war bereits mehrfach von Flow bzw. Flow-Zuständen die Rede – sowie davon, dass viele Sportler diese Erfahrung kennen. Eine genaue, objektive Beschreibung dessen, was einen Flow-Zustand ausmacht, fällt dennoch schwerer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das können vermutlich alle bestätigen, die schon einmal versucht haben, jemandem die Faszination dieses Zustands zu erklären, der Flows nicht kennt! Trotz dieser Schwierigkeit sowie der stark subjektiven Komponente, die beim tatsächlichen Erleben stets vorhanden ist, brauchen wir eine Versprachlichung. Denn um die zugrundeliegenden Muster und Mechanismen zu erforschen und zu verstehen, benötigen wir eine gemeinsame Basis in Form einer möglichst exakten Definition. Einen guten Ansatzpunkt bieten hierbei die Forschungen von Mihaly Csikszentmihalyi. Diese zählen mittlerweile zu den Standardwerken, wenn es um das Thema Flow geht und liefern eine griffige allgemeine Beschreibung. Csikszentmihalyi zufolge besteht das Flow-Erlebnis aus insgesamt acht Komponenten. Betrachtet man die einzelnen Komponenten genauer, zeigt sich schnell, warum Sport und Bewegung geradezu prädestiniert für Flow-Erfahrungen sind. Zudem liefern die aufgelisteten Kriterien eine Erklärung dafür, warum vor allem ambitionierte Sportler, die über ein hohes Maß an Können und Expertise verfügen, Flow-Zustände wiederholt erfahren bzw. sich diese bei ihnen leichter oder schneller einstellen. Bei den von Csikszentmihalyi definierten acht Komponenten von Flow handelt es sich um:
Klarheit der Ziele und unmittelbare Rückmeldungen
Dieser Aspekt ist im Sport eindeutig vorhanden. In vielen Disziplinen geht es bereits im Training darum, vorgegebene Zeiten oder Werte zu erfüllen. Die Rückmeldung bezüglich des Erfolgs erfolgt somit unmittelbar – entweder wir erreichen die Vorgaben und haben die Aufgabe somit gemeistert oder wir bleiben unter den Anforderungen und verbuchen einen Misserfolg. Gleiches gilt für den Wettkampf. In der Regel gehen wir mit bestimmten Erwartungen in ein Turnier und erhalten durch die Platzierung eine sofortige Rückmeldung.
Eine hohe Konzentration auf ein begrenztes Feld
Wollen wir eine gute Leistung erbringen, braucht es neben der physischen Fitness und den technischen Fähigkeiten ein erhebliches Maß an Konzentration. Denn die beste Technik nutzt wenig, wenn wir abgelenkt sind, uns Fehler in der Ausführung unterlaufen oder wir im entscheidenden Moment zu langsam reagieren. Das kann an Tagen, an denen wir gestresst, müde oder unkonzentriert sind, zur Herausforderung werden. Dann gelingt es uns trotz aller Vorbereitung und trotz allen Könnens nicht, die uns mögliche Leistung abzurufen. Schaffen wir es dagegen, unsere Aufmerksamkeit vollkommen auf das zu richten, was wir gerade tun, gehen wir förmlich in der Aktivität auf und es stellt sich eine starke Fokussierung ein. Dieser Effekt ist einerseits leistungsfördernd und bietet andererseits die Gelegenheit zur mentalen Regeneration. Das gilt insbesondere dann, wenn wir den Sport als Ausgleich nutzen möchten, sprich wenn es uns darum geht, beim Training die Sorgen und Probleme des Alltags hinter uns zu lassen und alles, was uns belastet, eine Zeit lang auszublenden. Diese mentale Auszeit lässt sich in der Bewegung oft leichter realisieren als in der (körperlichen) Ruhe. Denn in stressigen Phasen beginnen die Gedanken bei vollkommener Ruhe oft erst richtig zu kreiseln und es fällt schwer, abzuschalten und beispielsweise auf dem Sofa oder im Liegestuhl zu entspannen. Kommen wir dagegen körperlich in Bewegung und haben einen Fokus, auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten können, wird es leichter, den Alltag zur Seite zu schieben und so Abstand zu gewinnen.
Das Verhältnis zwischen Anforderungen und Fähigkeiten
Eine weitere wichtige Voraussetzung für das Entstehen von Flow: Der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe muss im richtigen Verhältnis zu den Fähigkeiten der handelnden Person stehen. Konkret bedeutet das, dass eine Aufgabe uns zwar fordern muss, gleichzeitig aber nicht überfordern darf, wenn wir einen Flow-Zustand erreichen möchten. Ist die Herausforderung zu groß, entstehen beispielsweise Anspannung, Frust und Angst. Ist die Herausforderung dagegen zu klein, stellen sich Langeweile und ein Gefühl der Unterforderung ein. Um das richtige Maß zu finden, braucht es Erfahrung sowie einiges Ausprobieren. Ist das Optimum jedoch (näherungsweise) erreicht und bewegt sich ein Sportler innerhalb einer für ihn passenden Leistungsklasse bzw. verfolgt einen Plan, der genau auf seine Fähigkeiten zugeschnitten ist, herrschen beste Rahmenbedingungen für die erforderliche ausbalancierte Kombination zwischen Anforderungen und Fähigkeiten. Neben Aspekten wie potenzieller Unter- bzw. Überlastung ist dies ein weiterer Grund, das eigene Trainings- und Wettkampfprogramm regelmäßig zu überprüfen und bei Bedarf anzupassen.
Das Gefühl von Kontrolle
Wer schon einmal ein Runner’s High erlebt hat, weiß, wovon bei diesem Punkt die Rede ist: Gerade in Momenten, in denen es „läuft“, stellt sich kurzzeitig das Gefühl ein, man könne einfach alles erreichen, endlos weiterlaufen, den Körper perfekt steuern und sei vollkommen im Einklang mit sich selbst und der Bewegung. Setzt ein solcher Zustand ein, gehen wir ganz im Moment auf, haben gleichzeitig aber das Gefühl absoluter Kontrolle und Selbstwirksamkeit.
Die Mühelosigkeit des Handlungsablaufs
Übung macht den Meister. Diese Redensart ist inzwischen überstrapaziert, hat aber trotz allem weiterhin einen wahren Kern. Je öfter wir Bewegungsabläufe, Spielzüge oder Choreographien üben, desto leichter fallen sie uns. Idealerweise erreichen wir irgendwann den Punkt, an dem selbst Höchstleistungen mit einer gewissen Mühelosigkeit und Leichtigkeit einhergehen. Häufig erkennen wir bereits aus der Zuschauerperspektive, ob ein Sportler oder Musiker sich sehr stark konzentrieren und anstrengen muss oder ob seine Leistung eine fast schon spielerische Qualität aufweist. In der Regel sind es genau diese Auftritte, die besonders beeindrucken und ob ihrer Mühelosigkeit und Ästhetik im Gedächtnis bleiben. Für den Athleten wird das eigene Tun durch die Leichtigkeit insofern attraktiv, als keine (mentale) Kraftanstrengung mehr notwendig ist, um selbst hochkomplexen Anforderungen gerecht zu werden. Zudem geht ein solcher Zustand mit Spaß bzw. Vergnügen einher, was für viele harte Trainings- oder Übungssessions entschädigt und langfristig die Motivation aufrecht erhält.
Die Veränderung des Zeiterlebens
Ein weiteres Phänomen, das viele Sportlerinnen und Sportler kennen: Tritt der Flow ein, scheint sich ein Schalter im Kopf umzulegen, der die komplette Zeitwahrnehmung verändert. Eine Minute kann dann endlos und voll der Erfüllung erscheinen, Stunden verfliegen dagegen geradezu rauschhaft oder wie in einem Wimpernschlag. Das „Auftauchen“ aus einem solchen Zustand fühlt sich häufig an wie die Rückkehr aus einer anderen Realität mit einem veränderten Zeitgefüge. Der ein oder andere Läufer hat sich in einem dieser Momente vielleicht schon einmal leicht desorientiert umgesehen und festgestellt, diverse Kilometer an Wegstrecke absolviert zu haben, ohne diese wirklich wahrzunehmen. Ein weiterer angenehmer Bonuseffekt: Athleten, die Flow-Zustände kennen, berichten, dass sie in diesen Moment keinerlei Anstrengung empfinden, sondern ohne übermäßigen Kraftaufwand scheinbar endlos weiter machen könnten. Diese Qualität macht den Flow und damit die sportliche Betätigung besonders attraktiv. Das gilt vor allem deshalb, weil sich derartige Zustände sonst fast nur durch gesundheitsschädliche Stoffe bzw. Drogen herstellen lassen. Eine gewisse addiktive Qualität können das körpereigene „High“ bzw. die Jagd danach zwar ebenso gewinnen, die „Nebenwirkungen“ sind in der Regel jedoch weitaus positiver als bei anderen Substanzen!
Das Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein
Während eines Flow-Erlebnisses kommt es zu einem ausschließlichen Fokus auf die Aktivität. Der Sportler geht dadurch komplett in ihr auf und wird eins mit dem eigenen Tun. Oft werden solche Phasen als Momente der idealen Harmonie, Perfektion und des absoluten Einklangs beschrieben. Spannenderweise berichten viele Sportler, die diese Erfahrungen kennen, dass sie nach außen zwar höchst dynamisch und in intensiver Aktivität sind, sich in ihrem Inneren jedoch eine enorme Ruhe einstellt. Mitunter wird dieses Phänomen als Erklärungsansatz dafür herangezogen, warum es beispielsweise Kampfsportlern gelingt, punktgenau und blitzschnell zu reagieren, gleichzeitig aber in höchstem Maße konzentriert und fokussiert zu sein und vollständig in sich zu ruhen. Diese Verschmelzung bzw. das Einswerden mit dem eigenen Tun ist ein weiterer möglicher Grund, warum Flow-Zustände trotz ihrer Intensität als energiespendend und mental regenerierend wahrgenommen werden.
Die autotelische Qualität der Flow-Erfahrung: IROI (Immediate Return on Investment)
Dieser Begriff leitet sich vom griechischen autos = selbst und telos = Ziel ab. Er bedeutet, dass sich die Befriedigung nicht erst beim Erreichen eines Ziels einstellt, sondern bereits die Handlung an sich als befriedigend wahrgenommen wird. Deshalb wird mitunter die aus der Wirtschaft stammende Abkürzung IROI verwendet. Sie zeigt an, dass eine unmittelbare (immediate) Befriedigung bzw. Belohnung für eine Anstrengung (Return on Investment) stattfindet. Genau dieses Phänomen erleben Sportler während eines Flows. Es liegt auf der Hand, dass Flow-Zustände dadurch unter anderem unsere Motivation erheblich steigern und dazu führen, dass wir eine Aktivität freiwillig immer wieder ausführen. Der Grund dafür: Erfolgt bei einer Handlung die Belohnung in Form eines erreichten Ziels zeitverzögert oder erst nachdem wir uns erheblich angestrengt haben, wägen wir im Vorfeld sorgsam ab, ob wir die Anstrengung wirklich auf uns nehmen möchten und fangen unter Umständen gar nicht an. Nehmen wir dagegen schon den Weg zum Ziel als erstrebenswert war, werden wir ihn freiwillig und ohne Anstoß von außen immer wieder gehen. Aus einer anfangs ggf. extrinsischen Motivation wird so intrinsische Motivation. Diese ist langfristig gesehen weitaus nachhaltiger als die Motivation von außen. Somit steigen die Chancen, dass wir langfristig bei der Sache bleiben und kleinere wie größere Hindernisse und Rückschläge überwinden.
Die obige Auflistung an Kriterien zeigt, weshalb Sport weit mehr als physische Bewegung ist und uns auch mental bzw. emotional berührt. Die meisten begeisterten Sportler dürften ohnehin weitaus mehr mit ihrer Sportart verbinden als rein das Bestreben, den Körper fit zu halten, Muskeln aufzubauen oder die Kondition zu steigern. Neben sozialen Aspekten wie dem gemeinsamen Training oder Wettkämpfen spielt in aller Regel auch das emotionale Erleben eine bedeutende Rolle und trägt maßgeblich zur Begeisterung für eine Disziplin bei.
Selbstverständlich ist die Begeisterung für das eigene Tun oder für bestimmte Aufgaben ebenso in anderen Bereichen möglich. Vielfach nimmt der Sport jedoch insofern eine Sonderstellung ein, als Flow-Zustände im Alltag bei den meisten Menschen sonst eher selten vorkommen. So sind beispielsweise nur wenige in der glücklichen Lage, einen Beruf auszuüben, in dem sie regelmäßig Flow-Zustände erleben, etwa als Berufsmusiker oder Schriftsteller. Hinzu kommt, dass, wie oben beschrieben, eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein muss. Gerade bei technisch herausfordernden Tätigkeiten bedarf es einiger Expertise, um überhaupt in einen Flow gelangen zu können. Diese Fähigkeiten auf unterschiedlichen Gebieten zu erwerben, ist allein aus zeitlichen Gründen schwierig. Denn die wenigsten haben die zeitlichen Kapazitäten, regelmäßig die entsprechende Zeit in unterschiedliche Hobbys und Aktivitäten wie Musik, Sport und bildende Kunst zu investieren. Ist eine Sportart gefunden, die uns gefällt, für die wir ein gewisses Talent haben und die uns Flow-Erfahrung ermöglicht, hängen wir deshalb auch emotional stark an dieser Disziplin. Haben wir in ihr die ersten Flow-Erfahrungen gemacht, möchten wir diese in der Regel wiederholen. Leider lässt sich das nicht erzwingen. Genauso wenig wie wir Schlaf „machen“, uns also zum Einschlafen zwingen können, können wir einen Flow auf Befehl erzeugen. Stattdessen können wir lediglich dafür sorgen, die bestmöglichen Bedingungen für sein Eintreten zu schaffen.
Kein Flow auf Knopfdruck!
Wie gerade erwähnt: Selbst wenn es wünschenswert wäre – ein Flow kann nicht komplett vorhersagbar herbeigeführt oder wie auf Knopfdruck abgerufen werden.[2] Nichtsdestotrotz gibt es Faktoren, die seine Entstehung begünstigen. Hierbei scheinen nicht zuletzt die damit verbundenen Emotionen eine große Rolle zu spielen. Eine Studie aus dem Jahr 2022[3], die Flow-Zustände bei Sportlern und Musikern untersuchte, sowie weitere einschlägige Studien zu diesem Themenkreis, identifizierten unter anderem folgende Faktoren und Maßnahmen:
- Regelmäßige und angemessene Praxis[4], d.h. ein Trainings- oder Übungsprogramm, das den Fähigkeiten des Sportlers oder Musikers entspricht
- Bedingungen, die geeignet sind, um Vergnügen bzw. Spaß zu empfinden[5]
- Zwischenpausen/Unterbrechungen vermeiden[6]
- Alternativen anbieten, sobald ein Programm oder eine Aufgabe zu langweilig wird
- Persönliche Voraussetzungen:
- Selbstbewusstsein/Selbstsicherheit
- Offenheit, zu experimentieren und Neues auszuprobieren
- Klare Ziele und Zielsetzungen
- Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit zu fokussieren und aufrecht zu erhalten
- Fähigkeit, mit Selbstbewusstsein bzw. ohne übermäßige Selbstkritik/Selbstzweifel einen Auftritt zu absolvieren oder in der Öffentlichkeit Leistung zu erbringen.
Zudem setzten sich die Studien mit den Rahmenbedingungen auseinander, die Flow-Zustände befördern. Leider umfassen einige der Untersuchungen nur eine sehr geringe Anzahl an Probanden. Die Erkenntnisse können deshalb nur als erste Hinweise und Inspirationen verstanden werden. Für eine generelle Empfehlung bedarf es aktuell noch weiterführender Forschung. Als förderliche Faktoren wurden unter anderem folgende Elemente identifiziert:
- Novelty (Neuartigkeit)
- Discovery (entdecken, erforschen)
- Uncertainty (Unsicherheit) / Experimentation (experimentieren)
Einer Studie zufolge entstanden Flow-Zustände nicht zuletzt dadurch, dass die Probanden zunehmend Sicherheit gewannen und so immer größere Herausforderungen angehen konnten, die es ihnen erlaubten, die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bzw. ihres Könnens maximal auszunutzen. Dieser Aspekt der perfekten Balance zwischen gestellter Aufgabe und eigener Leistungsfähigkeit wird immer wieder betont und stellt offensichtlich eine zentrale Komponente für Flow-Erleben dar.
Betrachtet man die momentane Studienlage, zeigt sich deutlich, dass es noch viel zu untersuchen und zu erforschen gibt, wenn es darum geht, die genauen Zusammenhänge und Entstehungsbedingungen für Flow-Zustände zu verstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese stets eine emotionale Komponente beinhalten, die individuell verschieden ausgeprägt ist – aus diesem Grund ist fraglich, ob es jemals die eine, allgemeingültige Erklärung oder Anleitung für das Erreichen von Flow-Zuständen geben wird. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein höchst spannendes Phänomen, von dem Hobby- wie Leistungssportler in vielerlei Hinsicht profitieren können. Es lohnt sich deshalb, selbst aktiv zu werden und in der eigenen Praxis herauszufinden, was einem persönlich dazu verhilft, Flow-Zustände zu erreichen. Der große Vorteil daran: Mit dieser Methode lässt sich fast nur gewinnen! Tritt an einem Tag kein Flow ein, gab es (hoffentlich) zumindest eine angenehme, zufriedenstellende Trainingseinheit. Kommt es zu einem Flow: Umso besser, durch diesen Bonuseffekt ist die „Belohnung“ gleich doppelt so groß.
Ich wünsche allen interessierten Sportler viel Spaß beim Ausprobieren und vor allem viele gute Trainingssessions und Wettkämpfe, mit wie ohne Flow!
Fragen oder Interesse an weiterem Austausch? Die Autorin freut sich über alle Rückmeldungen! Kontakt: sabine.nunius@sanu-training.com
[1] Christian Swann, Richard Keegan, Lee Crust, David Piggott,
Psychological states underlying excellent performance in professional golfers: “Letting it happen” vs. “making it happen”, Psychology of Sport and Exercise, Volume 23, 2016, Pages 101-113, ISSN 1469-0292,
https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2015.10.008.
[2] Csikszentmihalyi, M. (1999). “Implications of a systems perspective for the study of creativity,” in Handbook of Creativity. ed. R. J. Sternberg (New York, NY: Cambridge University Press), 313–335
[3] Front. Psychol., 30 March 2022, Sec. Performance Science; Volume 13 – 2022 | https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.831508
[4] Jackson, S. A., and Csikszentmihalyi, M. (1999). Flow in Sports: The Keys to Optimal Experiences and Performances. Champaign, IL: Human Kinetics Books.
[5] Front. Psychol., 02 June 2017; Volume 8 – 2017 | https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.00911
[6] Front. Psychol., 02 June 2017; Volume 8 – 2017 | https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.00911