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Mit vollem vagalen Tank zum Wettkampferfolg

Prof. Dr. Kuno Hottenrott

Mit vollem Tank die Wettkampfphase starten ist eine metaphorische Aussage und bedeutet, gut gewappnet, mental energiegeladen und mit starken Ressourcen in die intensivere Trainings- und Wetkampfphase einsteigen zu können. Es geht darum, sich körperlich und mental auf den Wettkampf vorzubereiten, ähnlich wie ein Auto, das mit einem vollen Tank gestartet wird und somit bereit ist, eine lange Strecke zu fahren, ohne zwischendurch tanken zu müssen. Aber wie schaffe ich es, dass mein Tank gut gefüllt ist oder wenn er leer ist, schnell wieder aufgefüllt wird? Und schließlich stellt sich die Frage, was ist eigentlich ein vagaler Tank, mit was wird mein Tank gefüllt und was trägt dazu bei, dass sich mein Tank wieder leeren kann?

Zur Theorie des vagalen Tanks

Der Begriff des vagalen Tanks beschreibt das Potenzial des Nervus Vagus und dient als Metapher für die Fähigkeit des Körpers, über das parasympathische Nervensystem Stress zu regulieren und Erholungsprozesse zu unterstützen. Ein „voller“ vagaler Tank bedeutet, dass der Körper über ausreichende parasympathische Kapazitäten verfügt, um sich von Belastungen zu erholen, Gesundheit zu fördern und die Auswirkungen von Stress zu mindern. Ein „leerer“ vagaler Tank hingegen weist auf eine reduzierte Fähigkeit hin, Entspannung und Regeneration zu fördern, was zu einer eingeschränkten Belastungsbewältigung führen kann.

Dieser metaphorische Begriff veranschaulicht, wie vagale Aktivierung die Anpassungsfähigkeit des Körpers an Stress und die Regulation der Herzfrequenz steuert. Eine hohe Herzfrequenzvariabilität (HRV), die häufig mit einer guten kardial vagalen Kontrolle und Selbstregulierung einhergeht, deutet auf eine gute Fähigkeit zur Erholung und Stressbewältigung hin. Bei einem weniger gefüllten Tank sind diese Fähigkeiten eingeschränkt, was zu einer reduzierten mentalen und körperlichen Leistungsfähigkeit führen und langfristig das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen kann.

Im Trainingsprozess ist die Theorie des vagalen Tanks ein wichtiges Konstrukt zur Steuerung der Trainingsbelastungen im Gesundheits- und Leistungssport. Athlet:innen profitieren von einem gut gefüllten vagalen Tank, da dieser die Balance zwischen Belastung und Erholung gewährleistet und die Ausdauer sowie Wettkampfleistung verbessert (Abb. 1). Ein leerer Tank hingegen kann das Risiko für Übertraining, unzureichende Regeneration und chronischen Stress deutlich erhöhen, was auf Dauer die körperliche Resilienz schwächt und die langfristige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.

Wie erkenne ich, ob mein vagaler Tank voll oder leer ist?

Die Füllhöhe des vagalen Tanks kannst du anhand deiner Herzfrequenzvariabilität (HRV) unter Anwendung spezieller Tests erkennen, die den Zustand deines autonomen Nervensystems anzeigen. Prinzipiell steht eine hohe HRV für einen gut gefüllten Tank. Entscheidend für die Anpassungsfähigkeit ist jedoch nicht nur die HRV in Ruhe und in der Nacht, sondern vor allem die HRV-Reaktion auf Reize und Belastungen, da erst durch Messungen unter wechselnden Bedingungen sichtbar wird, wie gut dein autonomes Nervensystem sich anpassen kann. Diese Anpassungsfähigkeit kann gezielt gemessen werden, indem ein Reiz gesetzt wird, etwa durch einen speziellen Atemtest (RSA-Test) oder den Lagewechseltest (Orthostatic Test).

  1. Der RSA-Test

Der RSA-Test basiert auf der Messung der respiratorischen Sinusarhythmie (RSA). Dazu musst Du mit einer niedrigen Atemfrequenz von 0,1 HZ (6 Atemzüge pro Minute) tief ein- und wieder ausatmen und dabei die Herzfrequenz messen. Die Ausatmungsphase sollte etwas länger als die Einatmungsphase sein, zum Beispiel 4 Sekunden einatmen und 6 Sekunden ausatmen. Für diese Taktatmung können Signalgeber genutzt werden. Die Testdauer sollte 3 oder 5 min betragen. Um die eigene Anpassungs- und Erholungsfähigkeit zu bewerten, sollte zunächst die Herzfrequenz in normaler, spontaner Atmung über 3 oder 5 min gemessen werden. Der Vergleich der beiden Messungen gibt dann Aufschluss über die Breite der kardial autonomen Regulation. Eine gute kardial vagale Regulation zeigt sich durch einen deutlichen Anstieg der Herzfrequenz beim Einatmen und eine starke Abnahme beim Ausatmen. Die obere Kurve aus Abbildung 2 zeigt ein Beispiel mit überdurchschnittlicher Parasymphatikus-Aktivität. Oft sehen wir solche Verläufe bei gut trainierten, gesunden Ausdauersportlern nach einer mehrtägigen Regenerationsphase. Die untere Kurve zeigt eine geringere Veränderung des Herzfrequenzverlaufs von der Spontanatmung zur Taktatmung, d.h. der kardial vagale Einfluss ist weniger erkennbar. Die Ursachen für diese schlechtere Anpassung können – müssen aber nicht – in Zusammenhang mit der Trainingsbelastung und erhöhtem Stress stehen. Durch regelmäßiges Atemtraining, Mediation, Entspannung, Yoga und aerobes Ausdauertraining kann die Anpassungsfähigkeit trainiert und verbessert werden.

Abbildung 2: Herzfrequenzverläufe in Ruhe bei Spontanatmung (0 bis 5 min) und Taktatmung (5 bis 10 min). Der obere Kurvenverlauf spricht für eine hohe Anpassungs- und Erholungsfähigkeit.

  1. Der Orthostatic-Test

Der Zustand des autonomen Nervensystems bzw. die Einflüsse des sympathischen und parasympathischen Nervensystems können bei Athlet:innen nach unseren Erfahrungen am besten über den Orthostatic Test, auch Lagewechseltest genannt, beurteilt werden. Dabei wird die Schlag-zu-Schlagfrequenz des Herzens im Liegen und anschließendem Aufstehen kontinuierlich gemessen. Um aussagekräftige Werte zu erhalten sollte die Messdauer mindestens zwei Minuten in liegender und stehender Position betragen.

Bei einem gesunden Menschen mit gut gefüllten vagalen Tank zeigt sich ein typischer, physiologisch begründbarer Verlauf der Herzfrequenz, wie er in Abbildung 3 beispielhaft dargelegt wird. Die Herzfrequenz in Ruhe ist mindestens 20 Schläge/min niedriger als im Stehen und der Herzfrequenzverlauf ist nicht starr, sondern weist relativ hohe Schwankungen auf. Die Phase des Aufstehens geht einher mit einem schnellen Anstieg der Herzfrequenz über die durchschnittliche Stehendherzfrequenz, einer deutlichen Gegenregulation bzw. einem steilen Herzfrequenzabfall und einem sofortigen Wiederanstieg mit Plateaubildung.

Abbildung 3: Orthostatic Test  über 2 min im Liegen und 2 min im Stehen (Polar Flow).

Mit dem Konzept des Orthostatic-Tests oder Lagewechseltests kann nicht nur der Füllzustandes des vagalen Tanks einfach und effektiv überprüft, sondern zugleich sehr differenziert die täglichen Einflüsse von Training, Stress und Gesundheitszustand bewertet werden. Er bietet eine einfache Möglichkeit, die vagale Energie und Kapazität einzuschätzen und Hinweise auf die mentale und körperliche Leistungsfähigkeit sowie den Gesundheitszustand zu erhalten. Eine schnelle Herzfrequenzanpassung und eine hohe HRV sind Zeichen für eine gute vagale Kapazität – also für einen gut gefüllten vagalen Tank. Träge Anpassungen oder eine geringe HRV deuten dagegen auf eine reduzierte vagale Aktivität hin, was ein Warnsignal für Übertraining oder eine beeinträchtigte Erholungsfähigkeit sein kann. Im guten, erholten Zustand dominiert im Liegen der Parasympathikus.

Beim Übergang vom Liegen ins Stehen nimmt der parasympathische Einfluss ab, der Blutdruck erhöht sich und der Sympathikus wird dominanter. Die Herzfrequenz erhöht sich und der Kreislauf hat sich nach etwa 30 Sekunden gut angepasst. Stress, hartes Training, Alkoholkonsum am Abend oder Schlafmangel können die parasympathische Aktivität im Liegen verringern. Die Herzfrequenz ist dann erhöht und die HRV nimmt ab. Während des Aufstehens und in der Stehendphase kann es außerdem zu ganz unterschiedlichen Reaktionen kommen, wie einem äußerst schnellen oder sehr langsamen Herzfrequenzanstieg, einer fehlenden Gegenregulation, einer überdurchschnittlichen hohen oder niedrigen Stehendherzfrequenz und vieles mehr. Wir erhalten also durch den Lagewechsel eine Vielzahl an weiteren Informationen zur Herzfrequenzregulation. Unsere Untersuchungen zum Orthostatic-Test mit sehr vielen Leistungssportler zeigen, dass Herzfrequenz und HRV während des Stehens viel sensibler auf Trainingseinflüsse reagieren als die Messungen im Liegen (Hottenrott & Hottenrott, 2018). Insofern reicht eine Ruhemessung in liegender Position nicht aus, um differenzierte Aussagen zum Leistungs- und Gesundheitszustand zu treffen.

Das vagale Tankmodell verstehen

Mit dem zusätzlichen physiologischen Stimulus durch den Orthostatic-Test haben wir bisherige Erkenntnisse zur Vagal Tank Theory (Laborde et al., 2018) erweitert und auf das Training in Ausdauersportarten übertragen. Unser Modell (Abb. 4) ist geeignet, den komplexen Prozess von Belastung und Erholung im Ausdauersport mit seiner Vielzahl an Einflussfaktoren ganzheitlich zu betrachten.

Das Modell basiert auf der Annahme, dass die vagale Kontrolle des Herzens eine Barometerfunktion hat, die widerspiegeln kann, wie effizient die Ressourcen zur Selbstregulierung mobilisiert werden. Daher die Metapher eines vagalen Tanks, der je nach Situation und Aufgabe geleert und wieder aufgefüllt werden kann. Für die Analyse der kardialen vagalen Kontrolle gibt es drei verschiedene Ebenen (Ruhe, Reaktivität, Erholung), die alle verschiedene Stufen der Anpassungsfähigkeit darstellen.

Im Füllzustand der Tanks im Liegen und Stehen spiegeln sich sowohl mentale, psychische, wie auch physische Faktoren der Belastung und Erholung wieder, da die HRV als Surrogatparameter fungiert. Das Modell kann sowohl im Trainingsprozess kurz- und langfristig (z.B. Overload, Tapering, Competition, Recovery), sowie in Phasen des Trainingsausfalls eingesetzt werden. Dabei zeigt sich ein guter psychophysischer Zustand immer in einer hohen Tankfüllung bzw. in hohen vagalen HRV-Parametern im Liegen (nicht im Stehen) und ist Voraussetzung zur Leistungserbringung. Der Ansatz für die individuelle Steuerung der Belastungs- und Erholungsprozesse basiert auf der Analyse einer individuellen Baseline der HRV.

Abbildung 4: Vagales Tankmodell unter Einbezug des Lagewechseltests für die Anwendung im Ausdauersport. Vagaltank mit vagalen Stimuli (1), mit hohen vagalen Stimuli (2) und sympathischen Stimuli (3). A, B und C zeigen den mögliche Füllzustand als noch vorhandene vagale Ressourcen nach einem Event und der anschließenden Erholung (Hottenrott et al., 2019).

Nach der Messung der Baseline-Werte im erholten Zustand und bei moderaten Trainingsbelastungen über etwa eine Woche, kann mit dem geplanten Trainingsprogramm gestartet werden. Die regelmäßigen morgendlichen Messungen dienen dann dazu, Veränderungen im Verhältnis zu den Ausgangswerten zu bewerten. Dadurch können sowohl der Athlet oder die Athletin selbst als auch der Coach fundierte Entscheidungen treffen und den Trainingsplan gezielt anpassen, um positive Anpassungen zu unterstützen. Darüber hinaus ermöglicht der Einsatz des Modells im Ausdauersport die frühzeitige Erkennung von Funktionseinschränkungen des autonomen Nervensystems beispielsweise durch eine aufkommende Viruserkrankung und bietet somit ein großes Anwendungspotenzial, auch für die Prävention von Übertraining.

Empfehlungen für die Praxis

Mit diesem Vorgehen kannst Du unser Konzept zum vagalen Tank in der Praxis nutzen

  1. Belastbarkeit überprüfen

Mit unserem Konzept des Orthostatic-Tests kannst du schnell erkennen, wie belastbar dein Körper aktuell ist. Ist deine vagale Kapazität hoch, steht intensiverem Training nichts im Weg. Sind die Werte niedrig, solltest du dich stärker auf Regeneration konzentrieren, um Überlastung zu vermeiden.

  1. Regeneration verfolgen

Nach harten Workouts oder Wettkämpfen hilft der Test dir dabei, den Fortschritt deiner Erholung zu beurteilen. Eine zunehmende vagale Aktivität zeigt Dir, dass dein Körper gut regeneriert und bald wieder für intensive Belastungen bereit ist.

  1. Trainingsplananpassungen vornehmen

Bei gut gefülltem vagalem Tank: hochintensive Workouts sind jetzt ideal, um deine Leistungsfähigkeit zu steigern.

Bei leerem vagalem Tank: setze auf sanfte, regenerative Workouts und aktive Erholung – so schützt du dich nicht nur vor Übertraining, sondern stärkst auch langfristig deine Widerstandsfähigkeit.

  1. Maßnahmen zur Füllung des vagalen Tanks durchführen

  • lockeres aerobes Training über mindestens 45 min im niedrigen Pulsbereich stärkt deinen Parasympathikus.
  • Atemübungen: Tiefe Bauchatmung mit 6 Atemzüge in der Minute wirkt direkt auf den Vagusnerv und unterstützt deine Erholung.
  • guter erholsamer Schlaf (mindestens 8 Stunden täglich) fördert nachhaltig deine Regeneration
  • ausgewogene gesunde Ernährung ist essenziell, um deine langfristige Leistungsfähigkeit zu sichern.

Auch, wenn dieses Modell für manche vielleicht sehr abstrakt erscheinen mag, kann es helfen das große Ganze im Alltag und Trainingsalltag nicht aus den Augen zu verlieren. Die Schaffung von mentalen Ressourcen und die Füllung des vagalen Tanks entscheidet gerade in körperlichen und mental stressigen Phasen und besonders auch, wenn plötzlich neue Herausforderungen auftreten, wie wir diese Situationen ohne auszubrennen meistern können. Wenn Du mehr zu diesem Konzept, den Hintergründen und der Umsetzung im Training wissen möchtest, dann empfehlen wir Dir unseren Online-Workshop zur Ausbildung zum HRV-Coach (www.hrv-sport.de)

Weiterführende und verwendete Quellen

Hottenrott, L. & Hottenrott, K. (2025). Marathon für Frauen. Wissenschaftlich fundierte Trainings- und Ernährungsempfehlungen. Eigenverlag.

Hottenrott, L. & Hottenrott, K. (2018). Die Geheimnisse des individualisierten Trainings. Der Orthostatic Test im Ausdauersport. Eigenverlag

Hottenrott, L., et al. (2019). Commentary: Vagal Tank Theory. Front. in Neurosci.13, 1300.

Laborde, S., et al. (2018). Vagal tank theory: the three Rs of cardiac vagal control functioning–resting, reactivity, and recovery. Front. Neurosci. 12:458.